Seidenbau in der Erzeugerschlacht

von Peter Klein-Nordhues · 02.12.2023
Die Geschichte der Seidenraupenzucht in den deutschen Volksschulen während der Zeit des Nationalsozialismus ist ein faszinierendes und zugleich beunruhigendes Kapitel der deutschen Bildungsgeschichte. Im Fokus dieses Artikels steht das Schulmuseum Folmhusen, das einzigartige Fotografien eines Tafelanschriebs aus der Volksschule Bunde bewahrt. Diese Bilder dokumentieren eine Kampagne der Nationalsozialisten, die darauf abzielte, die Seidenraupenzucht in den Schulen zu etablieren. Lehrer initiierten dieses Projekt, das dann von Schülerinnen und Schülern umgesetzt wurde. Diese Praxis spiegelt nicht nur die wirtschaftlichen Ambitionen des NS-Regimes wider, sondern veranschaulicht auch, wie Schulen als Instrumente zur Förderung der NS-Ideologie eingesetzt wurden.

Im Schulmuseum Folmhusen ist das Fotos eines Tafelanschriebs aus der Volksschule Bunde erhalten. Überschrieben mit „Wir helfen unseren Fallschirmtruppen“ dokumentiert es eine Kampagne der Nationalsozialisten in den Volksschulen, die auch Ostfriesland erreicht hat: den Aufbau einer schulischen Seidenraupenzucht, initiiert von den Lehrern, durchgeführt von den Schülerinnen und Schülern, die auf dem Foto unten links als „Helfer und Helferinnen“ aufgeführt sind. Auf einem zweiten Foto, gleichfalls aus Bunde, können wir die Brutgestelle deutlich erkennen. Es scheint also, dass die Seidenraupenbrut im Schulzimmer stattgefunden hat. Seit 1936 propagierte die nationalsozialistische Schulbürokratie die Seidenraupenzucht in den Volksschulen. Es erscheinen Erlasse dazu und Veröffentlichungen, u. a. die Broschüre „Der Seidenbau in der Erzeugerschlacht“, die in zwei Auflagen 1937 und 1940 erscheint und von der „Reichsfachgruppe Seidenbauer e. V.“ herausgegeben wird. In der 2. Auflage ist ein neues Kapitel aufgenommen: „Seidenbau in der Schule“. Die Broschüre beschreibt recht ausführlich, was alles zu tun ist. Maulbeerbüsche sind zu anzupflanzen und zu pflegen. Und das ist durchaus aufwändig. Es heißt in der Broschüre, dass „eine gut gehaltene Normalpflanzung (¼ Hektar mit 1000 Pflanzen) sieben Jahre nach der Anlage 30 bis 40 Zentner Laub“ (S. 35) ergibt. Der Anbau der Maulbeerbäume bedarf darüber hinaus einer eingehenden Bodenpflege. Die Pflanzungen müssen vom Unkraut freigehalten werden, und es muss für eine angemessene Düngung gesorgt werden. Dann muss die Brut besorgt werden. 10 g Brut werden in der Regel den Schulen zur Verfügung gestellt, das sind etwa 15 000 Eier des Falters. Diese werden auf Zuchtgestellen gehalten, die im Werkunterricht hergestellt werden sollen. Auf diesen sind einerseits die Zuchthorden angebracht, auf denen die Seidenraupen ihre Fressarbeit verrichten können, andererseits tragen sie die Spinnrahmen oder Spinngestelle, an denen die Raupen die Kokons spinnen können. Meist sind das etwa 50 x 50 cm große Lattenroste aus Maschendraht oder ähnlich große doppelseitige Lattengestelle. Durch die Schulchronik von Bunde, die in Kopie im Ostfriesischen Schulmuseum Folmhusen, vorhanden ist, haben wir aus den Jahren 1938 und 1939 Berichte über die Seidenraupenzucht. Der Schulleiter, Hauptlehrer Schmidt, schreibt unter der Überschrift: „Die Volksschule Bunde treibt Seidenraupenzucht.“

„Wir schalteten uns in den Vierjahresplan ein und halfen bei der Beschaffung des Rohstoffes Seide mit. Der Anfang 1938 (…) war wenig zufriedenstellend, die Zahl der Raupen wurde von Tag zu Tag weniger. Wir übernahmen dann noch einige hundert Raupen von Frl. Luyken. Ich lasse hier meine Zeitungsberichte folgen.“

In die Schulchronik sind dann zwei Artikel von Schmidt aus der Ostfriesischen Tageszeitung eingeklebt. In ihnen beschreibt er ausführlich die Arbeit mit den Seidenraupen, die an die Kinder delegiert ist. Er betont, welche Bedeutung diese Erfahrung für sie hat. Es geht vor allem um Genauigkeit und Sauberkeit. Hinzu kommt das „Ausleseverfahren, schwache und kranke Raupen (Gelbsucht) werden ausgeschieden, um den gesunden Raupen eine bessere Entfaltungsmöglichkeit zu geben“. Man hört sowohl den Zeitgeist wie die NS-Ideologie in diesen Sätzen, wie es auch auffällt, dass fast nur Mädchen zu der Pflege der Raupen herangezogen werden. Vor dem Hintergrund der Parteifunktion des Lehrers – er war Ortsgruppenpropagandaleiter“ – ist davon auszugehen, dass er den Jargon aus Überzeugung benutzt und um Wirkung zu erzielen. Die Artikel erscheinen – selbstverständlich! – in der „Ostfriesischen Tageszeitung“, die sich im Untertitel das „Verkündungsblatt der NSDAP“ nennt. Schmidt fasst in seinem Zeitungsberichtbericht die Lernergebnisse wie folgt zusammen: „Die Kinder haben in dieser Zuchtperiode die Unerbittlichkeit der Natur und ihre Gesetze kennen gelernt. Eine ausreichende Ernährungsgrundlage als unerlässliche Voraussetzung für alles Bestehen ist ihnen zum Begriff geworden. Sie haben aufs Neue erfahren, daß das Leben nur in Reinlichkeit gedeiht und unter entgegengesetzten Bedingungen verkümmert. Sie haben erkannt, daß eine strenge Auslese (Hervorhebung im Original) des Schwachen und Kranken eine freie Entfaltung des Gesunden und Lebensfähigen gewährleistet. Sie sind erstaunt gewesen über die geradezu verschwenderische Großzügigkeit, mit der Mutter Natur den Fortbestand ihrer Geschöpfe sichert. Was sind die eindrucksvollsten naturkundlichen Belehrungen gegen dieses Erleben einer geheimnisvollen Entwicklung vom unscheinbaren Ei bis zum Kunstwerk eines Kokons, in dem sich der Kreislauf eines ewigen Daseins zu schließen anschickt? Die Kinder haben auch eingesehen, daß die Pflege des Menschen den Maulbeerspinner wie so manches Haustier für den Kampf ums Dasein untüchtig werden ließ. Über aller Erkenntnis der verschiedenen Naturvorgänge stand aber die Freude der Kinder, zu ihre bescheidenen Teile der Erfüllung des Vierjahresplanes auf diesem Gebiete gedient zu haben.“  In der Schulchronik finden sich auch Abrechnungen. Im ersten Turnus kann die Schule insgesamt Kokons mit einem Gewicht von 670 g an die „Reichsanstalt für Seidenbau“ in Celle liefern, wofür 6,98 Reichsmark gezahlt werden. Das entstandene Material an Rohseide ist in 3 Qualitätsklassen unterteilt: die Sonderklasse, sowie die 1. und 2. Klasse. Außerdem gibt es „Abfall“, für den auch noch ein geringer Preis gezahlt wird. Den höchsten Preis erzielt, wie zu erwarten, die Sonderklasse mit 5,28 RM. Der zweite Turnus erzielt 1 kg und 30 g Rohseide. Dafür notiert der Lehrer 9,05 RM. Nach heutiger Kaufkraft waren das etwas mehr als 20 € bzw. 36 €. Rechts die genaue Aufstellung des zweiten Turnus aus der Schulchronik Volksschule Bunde: Für die weiteren Jahre ist notiert: 1939 gibt es 9,05 RM und 1940 9,02 RM. Der Lehrer kommentiert dazu: „Trotz geringerer Kokonzahl dasselbe Geld!! (Gelbspinner)“ Der Nationalsozialismus ist bekannt für seine dröhnende Rhetorik. Die findet man auch in der 1934 ausgerufenen „Erzeugungsschlacht“, zu der die Seidenraupenzucht gehört. Sie will die angestrebte Autarkie bei der Nahrungsmittelproduktion für das Deutsche Reich verwirklichen und entspricht den dirigistischen wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Nationalsozialisten. Grundziel der „Erzeugungsschlacht“ ist die Selbstversorgung. Dafür wurden Planziele vorgegeben und konkrete Handlungsanweisungen formuliert, die als „die Zehn Gebote“ bei den Bauern und ihren Betrieben bekannt gemacht wurden. Da Hitler davon ausging, dass das „Bauerntum“ die Grundlage eines Volkes ausmacht –  „Das Dritte Reich wird ein Bauernreich sein, oder es wird untergehen wie die Reiche der Hohenstaufen und der Hohenzollern“  wurden viele einzelne Maßnahmen festgelegt, die die Landwirtschaft unterstützen sollten. Dazu gehörten als erstes die Gründung des „Reichsnährstandes“, dann das Erbhöfegesetz und als drittes die landwirtschaftliche  Marktordnung – alles Gesetze oder Verordnungen, die schon 1933 erlassen wurden. Die „Erzeugungsschlacht“ fügte dem eine Reihe von weiteren Vorhaben hinzu, die in den genannten 10 Geboten ausgeführt wurden. Die Melioration war eine davon (s. Gebot Nr. 7) sowie der Versuch technische Verbesserungen und Innovationen durchzusetzen. In den Veröffentlichungen zum Seidenbau in den Schulen wird meist auf die Erzeugungsschlacht Bezug genommen. Die Schrift der „Reichsfachgruppe Seidenbauer e. V.“, die auch die Grundlage für die Broschüre ist, die den „Seidenbau in der Schule“ 1940 beschreibt, macht dies im Titel schon deutlich: „Der Seidenbau in der Erzeugungsschlacht“. Wichtiger für die Schulen ist allerdings: „Seidenbau in der Schule. Seine Eingliederung in den Unterricht.“ (Hrsg. v. der Reichsfachgruppe Seidenbauer e. V. im Reichsverband Deutscher Kleintierzüchter e. V., Verl. f. Tierzucht u. Landwirtschaft, Berlin 1940) Die Broschüre bemüht sich redlich, die Lehrerschaft davon zu überzeugen, dass die Seidenraupenzucht für die Schulen ein sinnvolles und wichtiges Arbeitsfeld ist. Dies wird, nachdem im ersten Teil die Erlasslage dargestellt ist, durch einen ausführlichen Artikel im zweiten Teil „Der Maulbeerspinner als Gegenstand des biologischen Unterrichts“ von Max Cretschmar versucht, einem Schmetterlingsforscher, der an der Reichsanstalt für Seidenbau in Celle angestellt war, gefolgt von einem dritten, der Erfahrungsberichte von mehreren Volksschullehrern, einen zweiseitigen „Stoffplan“ sowie unterschiedliche Unterrichtsmodelle enthält. Sie sind nur skizzenhaft ausgearbeitet und vermischen Erfahrungsberichte mit Unterrichtsplanung. Hierbei ist die ideologische Ausrichtung immer wieder deutlich. Der Geschichtsunterricht ist „kriegsmäßig“. Die „Rassenzucht“ ist: „Der Kampf ums Dasein“. „Nur der Tüchtige siegt. Beim Betrachten der Natur, beim Verstehen der Naturvorgänge, wird uns überall klar, daß im Reich des Lebendigen ein Kampf tobt, in dem das Schwache zugrunde geht und das Starke erhalten bleibt.“ „Besitzt der Mensch keine kämpferische Gesinnung, so wird er im „Kampf ums Dasein‘ besiegt und untergehen.“ Natürlich stellt sich die Frage, ob die Seidenraupenzucht in den  NS-Volksschulen  mehr  war  als  eine  ideologische Möglichkeit, die Kinder zu indoktrinieren, ob sie also eine wirtschaftliche Bedeutung entfalten konnte. Das ist schwer einzuschätzen. Christopher Manuel Galler stellt in seiner Magisterarbeit fest: „Die Idee einer deutschen Seidenerzeugung wurde von den NS-Agrarideologen zwar mit Wohlwollen aufgenommen und propagiert, gemessen an den Anstrengungen scheiterte dieses Vorhaben jedoch kläglich. So war die Spinnhütte auf Importe angewiesen und Deutschland wohl beim Rohstoff Seide viel abhängiger als die übrige deutsche Industrie bei vielen anderen Rohstoffen.“ („Die Spinnhütte Celle im Nationalsozialismus. Arbeit und Rüstungswirtschaft in einem Musterbetrieb von 1934 bis 1945“, Bielefeld 2012, S.137) Das hat Gründe, die schon in Preußen zu Schwierigkeiten geführt haben. Seidenraupenzucht ist aufwändiger, als es die optimistischen Beschreibungen sowohl im 18. Jahrhundert als auch bei den Nationalsozialisten deutlich werden lassen. Es sind offensichtlich drei Faktoren, die die Aufzucht der Seidenraupen beeinflussen: Das Futterangebot in quantitativer und qualitativer Hinsicht, die räumlichen Voraussetzungen sowie Zeitaufwand und Sorgfalt für die Aufzucht der Raupen. Die Maulbeerbäume, deren Blätter den Raupen als Futter dienen, sind nicht in allen Stadien des Wachstums für die Aufzucht der Raupen geeignet. Die jungen Seidenraupen brauchen junge Blätter.  Es  muss  also  eine  genaue Auswahl getroffen werden entsprechend dem Alter der Raupen. Benötigt wird zudem ein Raum, in dem die Seidenraupen wenig gestört werden und der eine kontinuierliche recht warme Temperatur gewährleistet. Außerdem müssen die Raupen regelmäßig je nach ihrem Entwicklungsstadium umgesetzt werden, da sich ihr Platzbedarf verändert. Entsprechend groß ist der Zeitaufwand. In allen Berichten wird darauf verwiesen, dass die Raupen täglich mehrmals, mindestens dreimal, gefüttert werden müssen, dass sie auf Krankheiten untersucht werden müssen und dass sie aus Hygienegründen immer wieder, offensichtlich fast täglich, auf neue und saubere Horden umgesetzt werden müssen. In Preußen führt das dazu, dass sich hauptsächlich das Kleinbürgertum um die Seidenraupenzucht bemüht, insbesondere die Lehrerschaft, denn ein Bauernhaushalt mit der Sorge für das Vieh, den Garten und die Äcker kann anscheinend eine solch regelmäßige Behandlung nicht gewährleisten. Ob die Schule dann der bessere Ort ist, mag man problematisieren. Marianne Trier, die Autorin einer Broschüre aus dem Schulmuseum Bergisch-Gladbach, die zu der dortigen Ausstellung 2008 erschien, weist auf diese Schwierigkeiten ausdrücklich hin. Sie schreibt: „Die Raupen vertragen keinen Durchzug, keine aufdringlichen Gerüche, kein lautes Sprechen und keine Unruhe, sonst produzieren sie nur minderwertige Seide. Kaum eine Schule wird diesen Kriterien gerecht geworden sein. Man stelle sich die schwitzenden Schüler vor, die bei geschlossenen Fenstern mit den stinkenden Raupen zusammenleben mussten.“ („Kein Puppenspiel. Seidenbau in der Schule“, Bergisch-Gladbach 2008, S. 67) Deutschland war für die Fallschirmproduktion zwar auf Naturseide angewiesen. Aber diese bezog man weitgehend aus Japan, teilweise auch aus Italien. In den USA beginnt ab etwa 1940 die Herstellung von Fallschirmseide aus Nylon. Aus Deutschland (und Japan) ist bis 1945 eine solche Entwicklung nicht berichtet. Fallschirmseide war also eine Naturfaser, die in Deutschland nicht in großem Umfang hergestellt werden konnte und daher aus dem Ausland stammte.

Ob die Kampagne in den Schulen, die bis zum Kriegsende fortgesetzt wird, einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung von Fallschirmseide geleistet hat, muss wohl offenbleiben. Möglicherweise war sie als Form der Motivation für das Kriegsgeschehen wichtiger. Und unklar ist auch, ob das in den Schulen hergestellte Material wirklich für den propagiert Zweck genutzt wurde bzw. genutzt werden konnte. Galler berichtet, dass in Celle am Kriegsende bzw. über das Kriegsende hinaus eine große Menge Seidenstoff gefunden wurde, der auf dem Schwarzmarkt anderen Zwecken zugeführt wurde. In der genannten Broschüre aus dem Schulmuseum Bergisch-Gladbach ist das Foto eines Kinderkleids aus Fallschirmseide dokumentiert, dass diese Zweitverwertung zeigt. Es scheint also, dass die aus den Schulen angelieferten Kokons gar nicht für die Produktion von Fallschirmen genutzt wurden. Ob dies auf mangelnde Qualität zurückzuführen ist oder ob es andere Gründe für dieses Überschuss am Kriegsende gibt, war nicht zu eruieren. Nun sehen wir allerdings auf dem Foto aus Bunde, dass die Zuchtgestelle im Klassenzimmer standen. Angesichts der vermuteten Größe dieses Klassenraums verwundert diese Beobachtung. Ob es auch noch andere Räume in der Schule gab, die für die Zucht geeignet waren und genutzt wurden, konnte bisher nicht ermittelt werden. Wir wissen nicht, wie viele Schulen in Ostfriesland Seidenbau in der NS-Zeit betrieben haben. Im gesamten Reich waren die Schulen in den Seidenbau stark eingebunden. Hören wir noch einmal die Zusammenfassung, die Galler gibt: „Bereits 1935 hatte sich die Reichsfachgruppe Seidenbauer nochmals zum Ziel gesetzt, die Kokonerzeugung bis 1938 auf das Zweihundertfache des Wertes von 1934 zu steigern. Trotz des nicht zu verkennenden diktatorischen Charakters des NS-Staates sollte der Seidenbau keineswegs zwangsweise eingeführt werden, sondern das reine Wecken des Interesses